Vom Nachkriegszweckbau zur „Aluminiumromantik“ und dem Ehrenamt

Porträtfoto von Reinhard Wille aus den späten 1970er Jahren
Der frühere Baubürgermeister der Stadt Neckarsulm, Reinhard Wille, hier auf einem Foto aus den späten 1970er Jahren, wäre am 7. Mai 100 Jahre alt geworden. (Foto: Stadtarchiv)   

Hans Herrmann Reinhard Wille, langjähriger Bürgermeister der Stadt Neckarsulm und engagierter Ehrenämtler, wäre am 7. Mai 2024 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass soll ein kurzer Einblick in sein Leben und Wirken gegeben werden, das bis heute nachwirkt.

Dass der gebürtige Oberfranke – 1924 kam er in Rehau (Landkreis Hof/Bayern) zur Welt – eine so prägende Rolle für Neckarsulm haben würde, war nicht vorhersehbar. „Ich wusste gar nicht, wo das liegt,“ erinnerte er sich einmal an die Zeit seiner Bewerbung als Stadtbaumeister für Neckarsulm zurück.  Hingefunden hat er – geblieben ist er auch.

Nach seiner Zeit an Volks- und Oberrealschule mit Abschluss 1942 wurde er zum Reichsarbeitsdienst einberufen. Zwischen 1943 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 war Wille Soldat der Wehrmacht, zuletzt im Rang eines Leutnants.  Wille kam in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach der Entlassung erhielt er eine Ausbildung an der Bauschule Regensburg, arbeitete an verschiedenen Stationen in Rothenburg ob der Tauber, Heidelberg und Mannheim. Während eines Praktikums in Rothenburg lernte er seine spätere Frau Luise, geb. Schwab (1921-2013) auf einer Tanzveranstaltung kennen – erst nach der Hochzeit klärte sie ihn über seine ausbaufähigen Tanzkenntnisse auf. Geheiratet haben die beiden trotzdem: am 27. Dezember 1949. Aus der Ehe gingen später zwei Töchter hervor. Von Heidelberg, dem Wohnsitz der Familie, pendelte er zwischen 1952 und 1953 an die Staatsbauschule Darmstadt, die er als Ingenieur für Hochbau verließ. Anschließend übernahm er ab Januar 1955 die Tätigkeit als Stadtbaumeister im ebenfalls oberfränkischen Naila, etwa 40 Kilometer von seinem Heimatort entfernt.

Im Sommer 1957 bewarb sich Reinhard Wille um das gleiche Amt in Neckarsulm. Er setzte sich gegen rund 40 Mitbewerber durch und wurde im November 1957 vom Neckarsulmer Gemeinderat zum Stadtbaumeister gewählt. Diese Stelle trat er am 1. April 1958 an. Im Zuge der Ernennung zur Großen Kreisstadt erfolgte seine Beförderung zum Bürgermeister mit Zuständigkeit für den Bau- und technischen Aufgabenbereich, wofür er 1980 wiedergewählt wurde. Erst zum Pensionseintritt 1988 verließ er die Neckarsulmer Stadtverwaltung wieder, der Stadt und ihren Vereinen blieb er ehrenamtlich engagiert treu.

In seiner 30-jährigen Tätigkeit musste der Stadtbaurat mit Hochbauqualifikation auch große Tiefbauprojekte bewältigen, die die Stadt bis heute begleiten. Zu nennen sind dabei insbesondere die Verdolung der Sulm als Hochwasserschutzmaßnahme nach der Erfahrung der großen Hochwasser anfangs der 1970er Jahre, der Ausbau der Wasserversorgung und die Umlegung von Bauland. Zu seinem Tätigkeitsbereich gehörten auch die Stadtwerke, zu größeren Hochbauprojekten der Bau von je fünf Schulen und Freizeitanlagen, sechs Schulerweiterungen, Sporthallen und Kindergärten und sieben Sporthallen; außerdem der Bau des Hallenbades, an dessen Standort sich heute (noch) die Baustelle der Franz-Binder-Verbundschule befindet.

Zwei Gebäude, deren Bau Reinhard Wille mitverantwortete, sind bis heute im Stadtbild deutlich sichtbar: die erste Erweiterung des Rathauses auf dem Marktplatz (heute Gebäude A/B) und das „Gemeinschaftszentrum für Sport, Kultur und Freizeit“, die Ballei. Diese und weitere Projekte aus seiner Amtszeit bildeten die Basis für Nachhaltigkeit der Infrastruktur und Wohnraum für die Bevölkerung und boten die Voraussetzungen der weiteren Entwicklung Neckarsulms zum wichtigen Wirtschafts- und Industriestandort der Region.

Bei seinem Ausscheiden 1988 wurde Reinhard Wille mit der Ehrenmedaille der Stadt geehrt. Oberbürgermeister Dr. Erhard Klotz beschrieb während der Abschiedsfeier vier Phasen, die die Amtszeit Reinhard Willes umfasst habe: die Abriss- und Neubauphase als Nachkriegsfolge, die Planung hin zur autogerechten Stadt, die Phase des Aufbaus des Stadtbildes und eine weitere Phase, die nach den Eingemeindungen von Dahenfeld 1971 und Obereisesheim 1972 spürbar wurde. Wille selbst verband dies mit Überlegungen zu den Architekturphasen, die er während seiner Amtszeit erlebt habe – nach dem „total schmucklosen Zweckbau“ der Nachkriegszeit den Betonbrutalismus, anschließend die „Spitzerkerphase“ und zum Ende seiner Amtszeit 1988 die „Aluminiumromantik unserer Tage“.

Dass er Hoch- und Tiefbau nicht nur als berufliche Aufgabe sah, wird daran deutlich, dass Familie Wille auch beim Eigenheim alle Hände voll zu tun hatte: in zahlreichen Arbeitsstunden wurden große Teile des Hauses in Eigenleistung erbaut, nebenbei blieb allerdings auch Zeit für die Hobbies des Stadtbaumeisters: Kochen, Amateurfilmen und Reisen. So beherbergt das Stadtarchiv Neckarsulm zwei Filme auf Super 8-Rollen, die aus der Kamera von Reinhard Wille stammen.

Auch für das Ehrenamt fand Reinhard Wille Zeit:

Von 1977 bis 1992 engagierte er sich als Erster Vorsitzender des Ortsvereins Neckarsulm des Deutschen Roten Kreuzes. Als Gründungsmitglied war er über zehn Jahre im Ausschuss des Heimat- und Museumsvereins Neckarsulm tätig. Bei Schlaraffia, einer weltweiten Vereinigung zur Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor, war er über 50 Jahre Mitglied. Sein Herz hing aber ganz besonders an der Jugendfarm in der Reisachmühle, die er 1973 initiierte, mitgründete und in deren Vorstand er über 25 Jahre lang tätig war – erst letztes Jahr konnte die Jugendfarm ihr 50-jähriges Bestehen feiern. Für seine Verdienste ernannte ihn die Jugendfarm im Jahr 2000 zum Ehrenvorsitzenden; das Land Baden-Württemberg überreichte ihm 2001 die Ehrennadel.

2009 feierten Reinhard und Luise Wille ihre Diamantene Hochzeit. 2013 musste er sich nach über 60 Ehejahren von seiner Frau verabschieden. Im Alter von 93 Jahren verstarb Reinhard Wille am 21. März 2018 und wurde auf dem Alten Friedhof Steinachstraße in Neckarsulm beerdigt. Er galt als „eigene, interessante Persönlichkeit“, als „unkonventionell, in manchem alternativ, als dies noch nicht modern war“ mit „Mut zur abweichenden Meinung“, großer Sprachgewalt und als Vorbild – beruflich wie privat. (snp/Vera Kreutzmann)